Ich habe Angst. Die Worte rasen wie eine Gedankenspirale in meinem Kopf auf und ab. Verzweifelt klammere ich mich an dem kunstvoll geschnitzten Bogen fest, der den Eingang zur Brücke markiert. Mein Herz presst das Blut-Adrenalin-Gemisch durch meine Adern und nimmt mir den Atem.
„Stellen sie sich nicht so an“, Gabriel, mein Führer, verdreht die Augen.
Ich kann mir vorstellen was er denkt. Das hat er in den letzten Tagen vermutlich schon hundert Mal gedacht: Stadtfrauen gehören nicht in den südamerikanischen Urwald.
„Ich schaff das nicht. Höhenangst!“, würge ich heraus.
Jeder Muskel ist erstarrt. Nur in meinem Innern tobt das Chaos. Gabriel beugt sich über das Brückengeländer.
„So schlimm ist es auch nicht. Der Nebel verhindert, dass man den Grund der Schlucht sehen kann und außerdem“, er tritt ein paar Mal heftig auf den Boden der Holzbrücke, „die ist massiv. Da passiert nichts.“
Bei seinem Experiment habe ich die Luft angehalten und kalter Schweiß steht mir auf der Stirn und im Nacken. Ich glaube, Gabriel macht das extra. Er kommt auf mich zu und schaut mitleidig auf mich herunter.
„Wenn sie vor so etwas schon Angst haben, wie wollen sie dann die schweren Hindernisse überstehen?“
„Die Schweren? Was kann schlimmer sein, als das?“
Ich sehe ihn mit großen Augen an.
„Na wilde Eingeborene, reißende Stromschnellen, Vulkanausbruch, Erdbeben, Hurrikans? Haben sie sich eigentlich über irgendetwas Gedanken gemacht, bevor sie diese Expedition geplant haben?“
„Natürlich!“, lüge ich und hoffe, dass Gabriel es mir nicht ansieht, gestehe dennoch kleinlaut, „aber an meine Höhenangst habe ich nicht gedacht.“
Tatsächlich dachte ich nur daran, die Forschung meines Vaters fortzusetzen, der wegen dieser unseligen Karte, sein Leben gelassen hat.
„Was ist jetzt? Weitergehen oder umkehren?“, fragt Gabriel ungeduldig.
Er sieht mir skeptisch zu, wie ich im Zeitlupentempo meine Finger vom Holz löse und einen winzigen Schritt auf die Brücke mache. Scheinbar merkt er, dass es mir ernst ist und ich ihm nichts vorgaukele. Gabriel nimmt meine eiskalte Hand in seine, legt den anderen Arm um meine Schulter.
„Kommen sie, wenn es hilft schließen sie die Augen. Ich führe sie.“
„Gut“, ich atme tief ein und aus und versuche mich etwas zu entspannen, „versuchen wir es.“
Ich kneife die Augenlider fest zusammen, drücke Gabriels Hand ganz fest. Schritt für Schritt quäle ich mich über den Abgrund. Jedes Knarzen der Bohlen bereitet mir körperlichen Schmerz.
„Sie haben es geschafft“, flüstert Gabriel die erlösenden Worte dicht neben meinem Ohr.
Erleichtert öffne ich meine Augen.
„Danke für ihre Hilfe.“
„Kein Ding. Dafür bezahlen sie mich“, erwidert er lässig.
Hinter uns ertönt ein lautes Knarren und Knurren. Ein Ruck geht durch die Holzkonstruktion. Dann schwankt sie nach links, dann nach rechts und fällt einfach in sich zusammen. Fassungslos sehen wir dem Schauspiel zu, bis auch die letzte Holzbohle mit geräuschvollem Echo den Grund der Schlucht erreicht hat.
„Na das ist ja gerade noch mal gut gegangen“, stellt Gabriel salopp fest.
Mir hat es vollständig die Sprache verschlagen.
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